Dr. Olha Konstantynovska ist Tuberkulose-Ärztin in Charkiw und außerordentliche Professorin in der Abteilung für Infektionskrankheiten und klinische Immunologie an der V.N Karazin Kharkiv National University, einer der größten Universitäten der Ukraine und Partner-Universität der Forschungszentrum Borstel, Leibniz Lungenzentrum. Für den Kurs "Klinische Tuberkulose" des Deutschen Zentrums für Infektionsforschung (DZIF) nahm sie den beschwerlichen Weg aus der Ukraine nach Borstel auf sich, um über die schwierige Situation vor Ort zu berichten und darüber, ob eine Tuberkuloseversorgung in Kriegszeiten überhaupt möglich ist.
Wir freuen uns sehr, dass Sie unser Gast in Borstel sind und den weiten Weg aus dem Osten der Ukraine auf sich genommen haben. Wie sind Sie nach Deutschland gereist? Wie ist das Reisen in der Ukraine derzeit überhaupt möglich?
Olha Konstantynovska: Vielen Dank für die freundliche Einladung und Unterstützung! Ich bin sehr froh zu kommen, auch wenn es sehr kompliziert ist. Meine Anreise dauerte 2 Tage und Nächte, um zum nächsten Flughafen in Polen zu kommen. In der Ukraine haben wir keine Flughäfen mehr, sie sind zerstört und der Himmel ist für den Flugverkehr geschlossen, da es zu gefährlich ist. Ich habe die Nacht im Zug in der Nähe von Kiew verbracht. Wir haben gewartet, bis der Raketen- und Drohnenangriff beendet war. Es war wie in einem Apokalypse-Film: Explosionen umgaben uns und wir - die Passagiere im Zug - saßen im Dunkeln und warteten, ob wir überleben würden. Von Lemberg aus nahm ich einen Bus nach Warschau und musste dann eine Nacht in Warschau verbringen. Frühmorgens hatte ich einen Flug nach Hamburg gebucht - das war also mein Weg zum Forschungszentrum Borstel.
Wie ist die aktuelle Situation in Charkiw, insbesondere in Ihrem Krankenhaus? Wird es von Tag zu Tag schwieriger, Patienten zu behandeln oder war es in der Anfangsphase der russischen Invasion schlimmer?
Olha Konstantynovska: Im Moment ist das Krankenhaus mit Patienten und medizinischem Personal überfüllt. Wir haben sogar Spaß bei unserer täglichen Arbeit, weil wir uns alle in der gleichen Situation befinden. Ich glaube, dass alle meine Kollegen echte Superhelden sind, denn sie haben sich entschieden, zu bleiben und sich gegenseitig und den Patienten zu helfen. Wer wird das tun, wenn alle gehen? Wer, wenn nicht wir?
Am Anfang war es noch viel schwieriger - niemand wusste, was am nächsten Morgen passieren würde? Charkiw wurde aus der Luft bombardiert, mit allen Waffen, die man kennt. Ich denke, nach dem Krieg werden viele traurige und heldenhafte Filme über die stärksten Bürger unserer Stadt entstehen. Wir hatten kein Essen für unsere Patienten und etwa 20 unserer medizinischen Mitarbeiter lebten mit ihren Familien im Krankenhaus, weil sie ihre Häuser und Wohnungen verloren hatten.
Was ist derzeit die größte Herausforderung in der Patientenversorgung? Woran mangelt es am meisten? Ist es überhaupt möglich, Tuberkulose in Kriegszeiten zu behandeln?
Olha Konstantynovska: Die größten Herausforderungen ist im Moment der Transport, denn die Patienten können manchmal nicht zu uns kommen und wir haben kein zusätzliches Geld für Treibstoff, um zu unseren Patienten zu fahren, um Medikamente zu bringen und Sputum zu sammeln usw. Dann haben wir fast jeden Tag Raketen- und Drohnenangriffe. Es ist immer sehr gefährlich zur Arbeit zu gehen. Niemand ist geschützt. Und es gibt Probleme mit Strom, Wasser und Heizung. Aber wir haben jetzt Stromgeneratoren - das ist sehr hilfreich.
Wir geben unser Bestes in der Tuberkulosebehandlung und versuchen, kein Symptom und keine Untersuchung zu übersehen. Manchmal brauchen wir Rat, und wir haben zusammen mit unseren Freunden aus Borstel beschlossen, Online-Sprechstunden zu organisieren, die uns bei der Behandlung unserer Patienten helfen sollen.
Schon vor dem Krieg gab es in der Ukraine eine große Zahl von Tuberkulosefällen. Was denken oder befürchten sie: Wie wird sich die Situation in den kommenden Monaten/Jahren entwickeln?
Olha Konstantynovska: Unsere TB-Patienten wollen auf jeden Fall gesund sein. Sie sind dem medizinischen Personal sehr dankbar, das in der Ukraine geblieben ist und sie nicht nur angesichts der Krankheit, sondern auch des Krieges nicht im Stich gelassen hat. Am Anfang hatten wir Angst, dass wir keine Lebensmittel, kein Wasser und keine Medikamente haben, aber diese Gefahr ist bereits gebannt, dank unserer Freunde aus aller Welt, die uns humanitäre Hilfe geschickt haben.
Und wir sind dem Forschungszentrum Borstel, dem Rotary Club in dieser Gegend und seinen Mitgliedern und vor allem Professor Lange sehr dankbar für ihre freundliche Unterstützung in solch schwierigen Zeiten!
Haben sie jemals daran gedacht, das Land zu verlassen, oder wussten Sie von Beginn der Invasion, dass Sie so lange wie möglich bleiben würden? Was gibt Ihnen die Kraft, Ihre Arbeit fortzusetzen?
Olha Konstantynovska: Die meisten unserer Patienten dachten nie daran, das Land zu verlassen. Sie beherrschen oft keine weiteren Sprachen, einige von ihnen sind in einem sehr schlechten Zustand und können nicht einmal in eine andere Stadt reisen. Unsere Patienten zählen zu einer vulnerablen Gruppe, meist mit begrenzten finanziellen Mitteln. Ich denke, dass nur eine kleine Anzahl von Patienten das Land verlassen hat, die die Möglichkeit hatten zu reisen. Und diese haben große Probleme, in der EU medizinische Hilfe zu erhalten.
Ich beschloss, so lange wie möglich zu bleiben, da meine Mutter und mein 87-jähriger Großvater in den besetzten Gebieten waren. Sie verbrachten dort mehr als 7 Monate. Und ich habe versucht, einen Weg zu finden, sie in die Ukraine zurückzubringen. Schließlich gelang es meiner Mutter, zu uns zu kommen. Sie reiste von Russland nach Weißrussland, Litauen und Polen und von dort in die Ukraine. Es dauerte 7 Tage und Nächte, bis sie in Charkiw ankam. Ihr Haus ist 25 km entfernt. Zusammen mit unseren Freunden konnten wir die Hotels für sie auf ihrer gesamten Reise buchen. Das Haus meines Großvaters wurde völlig niedergebrannt, und jetzt ist er ein Obdachloser im Alter von 87 Jahren. Auch er ist den ganzen Weg gereist und lebt jetzt bei uns.
Wir leben zusammen im Haus meiner Eltern (insgesamt 12 Personen, darunter 5 Kinder - 3 meiner Töchter und 2 Töchter meiner Schwester).
Ich glaube, ich muss hier sein, um mein Land wiederaufzubauen, meine Arbeit so gut wie möglich zu machen und zu versuchen, Menschen in Not zu helfen.
Vielen Dank für das Gespräch und für Ihre Zeit. Ich wünsche Ihnen und Ihren Kollegen alles Gute!
Olha Konstantynovska: Herzlichen Dank! Wir werden Ihre Unterstützung nie vergessen! Und ich glaube, dass wir letztendlich gewinnen werden! Willkommen bei uns, unsere Stadt ist ein Beispiel für zivile Macht!